Ein kunsthistorischer Rundgang
Der Dom und seine Ausstattung – ein kunsthistorischer Rundgang
Am Hildesheimer Dom haben viele Generationen gebaut, Architektur und Ausstattung geben Zeugnis von dieser wechselvollen Geschichte. Die unterschiedlichen Bauteile deuten darauf hin, kenntlich am Nebeneinander von romanischen und gotischen Bauformen und dem eigenwilligen Kontrapunkt des barocken Kuppelbaus über der Vierung. So wie diese Bauteile heute vor Augen stehen sind sie zwar erst im Zuge des Wiederaufbaus der in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs schwer von Bomben getroffenen Domkirche wiederhergestellt worden. Doch ihre Formensprache orientiert sich am historischen Baukörper. Zumindest in seiner äußeren Gestalt sollte er möglichst getreu wiedererstehen, um damit Zeugnis zu geben von der über mehr als 1000 Jahre ungebrochenen Vitalität des Bischofssitzes und seines Gründungsortes.
Bistum nahm auf Domhof seinen Anfang
Dass hier der Ursprung des Bistums Hildesheim liegt, haben die im Zuge der gerade abgeschlossenen Sanierung des Domkomplexes durchgeführten Bauforschungen noch einmal eindrucksvoll bestätigt. Das sächsische Gräberfeld, das dabei unter dem heutigen Dom aufgedeckt wurde, ist offenbar auf einen ersten, wesentlich kleineren, Kirchenbau im Bereich der heutigen Krypta ausgerichtet, an deren Ostapsis der Tausendjährige Rosenstock seine Wurzeln in den Boden treibt. In ihm sieht die fromme Überlieferung jenen „Baum“, an dem sich zur Zeit Ludwigs des Frommen ein Reliquienwunder ereignete.
Die Grunddisposition des heutigen Doms wird immer noch maßgeblich bestimmt durch jenen karolingischen Bau, den Bischof Altfrid (851-875) über der ersten Marienkirche errichten ließ.
Der Dom folgt in seiner Ausrichtung dem Sonnenlauf. Ihren Aufgang im Osten markiert die von drei großen Fenstern durchbrochene Apsis. Deren Wölbung zeichnet diesen Baukörper als einen hoheitlichen Ort aus, gilt die Sonne doch seit den Tagen Konstantins des Großen als Bild Christi. Den Gegenpol bildet der Glockenturm im Westen. Wie ein Bollwerk grenzt er das Gotteshaus gegen die Dunkelheit ab, die bei Sonnenuntergang hereinbricht. Einen eigenen Akzent setzt der Turm über der Vierung. Im alten Dom markierte er den Ort des von hier zum Himmel aufsteigenden Chorgebetes, heute erhebt er sich als Baldachin über dem Hauptaltar, der Herzmitte der Bischofskirche. Der Weg dorthin führt in der Hauptachse durch die Eingangshalle vor dem Westturm. Dieser alte Versammlungsort markiert die liturgische Grenze zwischen dem profanen Vorfeld der Bischofskirche und dem sakralen Innenraum.
Reiches Bildprogramm schmückt die Bernwardtür
Die Bernwardtür, die den Zugang ins Innere vermittelt, wird deshalb nur zu besonderen Anlässen geöffnet. Schon ihre Übergröße und die Tatsache, dass jeder ihrer beiden Flügel in einem Stück aus Bronze gegossen ist, kennzeichnet ihre herausgehobene Bedeutung. Dazu zeichnet sich die 1015 von Bischof Bernward gestiftete Tür durch ein reiches Bildprogramm aus, das diese Nahtstelle zwischen draußen und drinnen zum Thema einer heilsgeschichtlichen Katechese macht. Den heiligen Ort, der hinter dieser Tür liegt, soll nichts entwürdigen. Dafür stehen die beiden Türzieher, deren Löwenköpfe das Bild zweier Bestien beschwört, die mit gefletschten Zähnen Wache halten. Das archaische Motiv ist auf beziehungsreiche Weise eingebunden in die umgebende Szenenfolge.
Auf dem linken Flügel reicht sie in absteigender Reihe von der Erschaffung Adams bis zum Brudermord, rechts von der Verkündigung an Maria bis zur Erscheinung des Auferstandenen. Im Zentrum, den Türziehern unmittelbar zugeordnet, sieht man Eva mit Kain, ihrem Erstgeborenen auf dem Schoß, und die Gottesmutter einander gegenübergestellt. In dieser Konfrontation von „alter“ und „neuer Eva“ wird die Tür selbst zum Thema gemacht, ist es doch das bedingungslose Eingehen auf die Heilszusage Gottes, mit der Maria jene Tür wieder aufgestoßen hat, die durch die Ursünde Evas für immer verschlossen schien. Zugleich verbindet sich mit diesem Bild eine subtile Anspielung auf die Schutzpatronin des Doms.
Die marianische Prägung des Bildprogramms findet einen Wiederhall am nordwestlichen Seitenportal, einem der frequentiertesten Zugänge in den Dom. Hier sind es die in steinerne Tabernakel gefassten Figuren von Maria und Erzengel Gabriel, die in ihrer Anordnung zu beiden Seiten der Eingangstür auf die sakramentale Gegenwart Christi in dem von dorther zugänglich gemachten Kirchenraum verweisen. Als „Türhüter“ ist zusätzlich, in unmittelbarer Nachbarschaft zur großen Bronzetür der Westvorhalle, Bernward selbst dargestellt, zusammen mit den heiligen Bischöfen Godehard und Epiphanius, den Konpatronen des Mariendoms.
Drei Abschnitte gliedern den Längsraum
Die Arkadenfolge des Mittelschiffes wird durch zwischengestellte Pfeiler rhythmisiert, die den Längsraum in drei Abschnitte gliedern. Den Auftakt bildet das Taufbecken, das schon im Mittelalter im westlichen Teil des Langhauses verortet war. Nach wie vor ist die wichtigste Funktion des Beckens die, dass über ihm die Taufe gespendet wird. Zugleich ist dieses weltberühmte Kunstwerk Erinnerungsort an die allen christlichen Konfessionen gemeinsame Taufe. Und schließlich macht die komplexe Bildfolge mit ihren alt- und neutestamentlichen Verweisen auf die Heilsbedeutung der Taufe das Bronzebecken als zentralen Ort der Osterliturgie kenntlich, die in der Mutterkirche des Bistums seit jeher besonders festlich begangen wird.
Der mittlere Raumabschnitt wird durch den großen Radleuchter beherrscht, den Bischof Hezilo (1054-1079) für den nach der Brandkatastrophe von 1046 wiederhergestellten Dom gestiftet hat. Der Leuchter versinnbildlicht das himmlische Jerusalem.
Den abschließenden Akzent setzt im Mittelschiff die Tintenfassmadonna am nordwestlichen Vierungspfeiler. In ihrer herausgehobenen Position verweist sie darauf, dass die Bischofskirche der Gottesmutter geweiht ist.
Der Hauptalter korrespondiert mit dem Godehardschrein
Auch der Chorraum gliedert sich in drei Teile. Die Vierung, bis 1945 Ort des Chorgebetes, ist mit dem Hauptaltar seit 1960 liturgisches Zentrum der Bischofskirche. Der neue, von Ulrich Rückriem aus drei mächtigen Steinblöcken als Verweis auf die alttestamentlichen Opferaltäre gestaltete Hauptaltar fungiert in blockhafter Schwere als Ort des Messopfers. Er korrespondiert mit dem Godehardschrein in der Krypta als Erinnerungsort an den ersten, zur Ehre der Altäre erhobenen Bischof von Hildesheim. Die vergoldeten Innenseiten des Altars verweisen auf das darunterliegende Heiligengrab, das an die Stelle eines Reliquiensepulchrums tritt. In Erinnerung an die jahrhundertelang hier gefeierten Gottesdienste ist der für diesen Raum gestiftete Radleuchter des Bischofs Thietmar (1038-1044) nun wieder im Chorquadrat hinter dem Hauptaltar aufgehängt.
Wiederhergestellt ist auch die alte Sakramentsnische in der Nordwand mit ihrem barocken Gitter. Den Platz des alten Hauptaltars nimmt nun der wohl von Bischof Hezilo gestiftete Osterleuchter ein, den man wegen seiner monumentalen Größe und in Verkennung der ursprünglichen Bestimmung lange Zeit für die von Karl dem Großen gestürzte Göttersäule der Sachsen (Irmensul) hielt. Am neuen Standort dient die zwischenzeitlich von einer Marienfigur bekrönte Leuchtersäule nun dazu, ein Kristallkreuz zu tragen. Das Hildesheimer Künstlerpaar Ulla und Martin Kaufmann hat es aus Bergkristall geschaffen und greift auf diese Weise den Gedanken des edelsteinbesetzten Strahlenkreuzes auf, das seit altersher Zeichen der Wiederkunft Christi ist. Vor dem lichtdurchfluteten Rund der Apsis, das den Chorraum umschließt, wird das Kreuz auf der „Irmensäule“ damit zum zentralen Heilszeichen des Doms.
Zentrales Heiligtum ist die Unterkirche
Die Querhäuser des Doms sind als Pilgerweg konzipiert. Die gotische Außenfassade des Nordparadieses hebt das besonders anschaulich hervor, indem sie dem Eintretenden die Hauptpatrone vor Augen stellt: Die Gottesmutter, den heiligen Epiphanius und den heiligen Godehard. Dieser hält obendrein in seiner Rechten das älteste Heiligtum des Doms, das karolingische Reliquiar, das Anlass zur Gründung der Bischofskirche auf dem Domhügel gegeben haben soll. Vorbei an der Kapelle aller Dompatrone führt der Weg dann ins nördliche Querhaus mit der Cäcilienkapelle. Über dieser Kapelle ist in der Wandnische der Epiphaniusschrein aufgestellt. Über die Kultorte in der Krypta, auf deren Marienaltar bis ins hohe Mittelalter auch das Gründungsreliquiar aufgestellt wurde, gelangt man zum Südquerhaus, in dem heute die Christussäule steht. In unmittelbarer Nähe ist das Kopfreliquiar des Heiligen Bernward zu sehen.
In Verbindung mit der Krypta wird das Querhaus nach der jetzt vollzogenen Neuordnung als vorgegebener Ort der Heiligenverehrung von neuem wahrnehmbar. Zentrales Heiligtum ist die Unterkirche. Der neu errichtete Marienaltar ist die älteste Altarstelle des Bistums. Ihre Anfänge reichen bis in das frühe 9. Jahrhundert zurück. Um das deutlich zu machen, ist in den Altarstipes die karolingische Silberkapsel des Gründungsreliquiars eingelassen. Hinter dem Altar ist erneut das alte, vermutlich von Bischof Gerhard (1365-1398) für die Krypta gestiftete Gnadenbild der Gottesmutter aufgestellt, und durch die freigelegte Fensteröffnung blickt man wieder auf die Wurzeln des Tausendjährigen Rosenstocks. Die Trias der im Dom verehrten heiligen Bischöfe hat ihren Mittelpunkt im Westteil der Krypta auf den auch die neue Bischofsgrablege ausgerichtet ist.
Kapellen als Erinnerungsorte
An der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert wurde der Dom noch einmal durchgreifend verändert. Im Innenraum stehen dafür die beiden Kapellenreihen, die nicht nur angebaut wurden um einer gewachsenen Zahl von Gläubigen Rechnung zu tragen, sondern auch um der individuellen Frömmigkeit Platz zu geben. Daran konnte auf unterschiedliche Weise angeknüpft werden.
Während die Kapellenreihe der Nordseite eine eher liturgisch orientierte Ausrichtung erhalten hat, sind die in ihrer Grundstruktur überkommenen Kapellen der Südseite als Erinnerungsorte konzipiert. In der Barbarakapelle, der 1. Kapelle von Westen, befindet sich der letzte nahezu komplett erhaltene Altar der alten barocken Domausstattung, die 1945 fast vollständig vernichtet wurde. Das Altarbild zeigt zu Füßen der Dompatrone den knienden Bischof Jobst Edmund von Brabeck (1688-1702). Damit gibt die Memorie für den vor diesem Altar begrabenen Stifter zugleich Anlass, der vielen Toten zu gedenken, die über Jahrhunderte im Dom ihre letzte Ruhe gefunden haben.
In der anschließenden Kapelle der heiligen Anastasius und Vincentius sind die beiden von Johann Friedrich Ziesenis (1715-1785) für den zerstörten Altar der alten Taufkapelle geschaffenen Alabasterfiguren des Propheten Jesaja und des Apostels Philippus aufgestellt. Beide verweisen sie auf das Taufsakrament, der Prophet durch die „Bluttaufe“ seines Martyriums, der Apostel durch die von Lukas überlieferte Taufe des von Philippus bekehrten Äthiopiers. Anknüpfend an diese sakramentale Konnotation werden zwischen den beiden Heiligen künftig die barocken Ölgefäße des Doms dauerhaft aufgestellt.
Die Blickverbindung reicht dann über den Taufort im Mittelschiff bis zur gegenüberliegenden Beichtkapelle, dem Ort des Bußsakramentes und akzentuiert auf diese Weise den inhaltlichen Zusammenhang. In der Kapelle der heiligen Elisabeth, der dritten Kapelle von Westen gesehen, wird durch das große, nach einem Vorbild von Peter Paul Rubens geschaffene, Gemälde mit Anbetung der Könige die Erinnerung an die jahrhundertelange Verehrung dieser Heiligen im Dom wachgehalten.
Den östlichen Abschluss der Kapellenreihe bildet die Kapelle der Unbefleckten Empfängnis. Der in wesentlichen Teilen erhaltene Altaraufbau von Paul Egell (1691-1752) ist eine Stiftung des Hildesheimer Dompropstes und Weihbischofs Ernst Friedrich Freiherr von Twickel (+1734), der in dieser Kapelle auch begraben liegt. Das Figurenensemble, eine der großartigsten künstlerischen Gestaltungen dieses Themas in der europäischen Kunst des 18. Jahrhunderts zeigt die in den Himmel aufgenommene Maria zwischen ihren Eltern, Joachim und Anna. Diese Darstellung der Immaculata ist die einzige, die im Dom unmittelbar Bezug nimmt auf das Patronatsfest am 15. August.